Schleudertrauma
Vertikal gibt’s wohl kein Schleudertrauma. Wenn wir, sagen
wir mal, wortwörtlich aus den Wolken fallen und (unangemeldet)
in eine Hochzeitsfeier platzen müssen wir erstens unseren Augen
trauen und zweitens die Verantwortung, aber keinen
Schantzkragen tragen. Da heisst es: Augen zu und durch! Kopf
hoch, das schaffen wir auch ohne. Leichter gesagt als
getan. Fallschirmspringer wider Willen, lächerlich! Wolkenluftig freier Fall, der Ohnmacht nahe, zögerliches Atmungsmuster
Heiland kann’s tragen, aber das alte Holzgekreuz? Wohl eher nicht. Auch reichlich durchgemorscht, modert, bricht.
Herbst, Zeit, Lose
Im Neuengländischen heißt Herbst nicht autumn, sondern fall.
Und wie die Zeitumstellung funktioniert merkt man sich so:
spring ahead, fall back. Praktisch.
Die Schneestürme sind noreaster. Die Küste hoch nach
Norden das neue Schottland, dort fiel die
Swissair 111 vom Himmel.
Das war im Herbst achtundneunzig, St. Margaret’s
Bay, alle tot. Wie sehnen wir uns nach einer
weniger komplexen Welt, einem
einfachen Leben, Bargfeld zum Beispiel. Wenn
das nur so einfach wäre! Da könnte ja jeder
kommen. Was glauben Sie eigentlich
wer Sie sind? Wen Sie vor sich haben? Wohin soll
die Reise gehen? Wer weiß das schon? Und
warum, eigentlich?
Jägermeister
Vom Kräuterlikör verbrannte Patriarchen
schnarchen friedlich unter den Lärchen des
Schützenfestes diesseits der Elbe, fernab vom
Trubel des Jahrmarktes der Eitelkeiten des
Nordens. Vielleicht einfältig, vielleicht zwei –
die traurigen Szenen am Rande des Geschehens
geschehen nicht ungesehen. Unter dem Regenbogen
liegen Fragen begraben, verbogen im Laufe der
der Jahre, verborgen im Zwielicht, im Nachgang
zum Hexentreffen zur Heideblüte. Feine
Wesen, zierlich und elfenhaft, schweben über dem
Feld, Tau auf den Ähren im Morgendunst, singen
und summen vom Sommerlicht. Geläutert ruft
die dumpfe Glocke der Klosterkapelle zur Nacht.
Krokodilstränen
Feierabend. Im Angesicht der
Revolution singen die Söhne der
alten Zeit Trinklieder und
verbeugen sich vor Onkel Karl.
Die Bourgeoisie schmunzelt. Die
Börse ist zahnlos. Der Wille
gebrochen. Leer und farblos
stehen Kornblumen am Rand.
Das Sommerlicht erfrischt
die Mücken und das Meer.
Ein Fährschiff schiebt sich
mühevoll stromaufwärts im
Fluss und dann, ab und zu,
was sich nicht gehört:
Tränen im falschen Moment,
der Duft nasser Wolle, ein
Sonderfünfmarkstück von Olympia
zweiundsiebzig. Oh, ja, aber
die Geiseln, das Blut, und
wenig später ein Herbst mit
noch mehr Blut und Tränen.
Wie ein Vorhang senkt sich der
Winter über der Heide und
macht den Kartoffeln ein Ende.
Fremde in der Nacht
Abendnebel. Selten sondert ein Lapislazuli Düfte
ab. Wie auch? Stein mag wohl duften, aber blau?
Die Frau sieht aus wie damals Frau
Hoffmann, hinterm Tresen, Kolonialwarenladen
an der Ecke. Sie lächelt verlegen. (Na
selbstverständlich haben wir dunkle Schokolade.)
Das war kurz nach dem Krieg, die Fahnen-
masten waren noch dieselben, aber Frau Hoffmann
nicht. Keine Marschmusik in den Straßen, keine
Sirenen, keine Blindgänger, nur Vergessen. Ein
weißes, gestärktes Tischtuch die Grundlage des
Wahnsinns, des Anfangs vom Ende.
(Wäscheklammern kriegen wir morgen
wieder rein.) Wer weiß, vielleicht, wir mögen uns
irren, woher und wohin sollte das alles gehen, verfliegen?
Verkriechen, verirren, hinab in die Kellergewölbe die
zu Luftschutzbunkern umfunktionierten Bühnen so vieler
Erinnerungsbilder der Kinder Jahrgang ‘30 wurden.
Aus der Dämmerung tauchen die Umrisse britischer
Soldaten auf, “Tommies”, schnell das Taschentuch,
weiß, man muss ja vorsichtig sein, weiß Frau Hoffmann. Die
Stille duftet nicht mehr blau, eher rötlich jetzt, das
Dunkel, rubinrote olfaktorische Täuschung, (Und
schön’ Ab’nd noch, Herr Pastor!)
Nordwand
Wahrlich, ein gutes Wort, eingelegt für
wen auch immer – Geste der Seele im
Lügenmeer. Ein Wort, in der Tat, kann
Wunder wirken – “Hilfe!”, zum Beispiel
in haarigen Momenten, voraus gesetzt
es wird gehört, von einer guten Seele. Im
Jammertal, die dürren Knochen Gestürzter,
deren “Hilfe!” Rufe niemand sah, kein Wort,
und kantig. Eisern. Schnee. Die Knochen noch
wollbesockt und Bergsteigstiefel, die
Wand majestätisch, ein Wind
sprüht weißen Staub vom Gipfel.